Heimat - leben Sie da noch oder rauchen Sie das schon?

Irena Brežná: Heimat im üblichen Sinne ist etwas für Kinder und Nationalisten. Ein denkender erwachsener Mensch hat kaum eine feste Vorstellung von diesem diffusen Wort.

Noëmi Lerch: Heimat ist da, wo ich hingehe. Heimat hat für mich mit Zukunft zu tun, viel mehr als mit Vergangenheit. Es ist etwas, das ich erschaffe, indem ich mein Leben in einem bestimmten Umfeld pflege. Heimat ist für mich kein Bänkli, das, seit ich mich erinnern kann, am selben Ort steht und ich kann, wann immer ich will, dorthin zurückkehren und behaupten, dies sei meine Heimat, nur weil ich einst dort gesessen habe. Das Wort Heimat hat aber auch etwas Furchteinflössendes für mich, und darum verwende ich es nur mit Vorsicht. Das hat damit zu tun, dass Heimat in einem ganz bestimmten politischen Kontext verwendet wird.

Heimat in diesem Kontext ist auch etwas, das ständig in Gefahr ist und das man unbedingt verteidigen muss. Ein Gebiet, wo die einen drinnen und die anderen draussen sind. Ein streng in sich geschlossener Ort. In diesem Sinn ist Heimat für mich auch ein Gefängnis. Es kommt mir manchmal so vor, als wären wir in einem endlos andauernden Schwarzweiss-Heidifilm gefangen, während draussen die Lastwagen mit dem ganzen Käse aus aller Welt vorbeidonnern.

Die Heimat feiert gerade auf allen Kanälen ein Revival. Woran liegts?

Brežná: Die Politik bedient sich des Begriffes kontinuierlich, bloss wandelt sie ihn ab, je nach Zeitgeist. Auch im tschechoslowakischen Realsozialismus, der sich so international gab, wurde die Heimat beschworen, doch statt saftiger Wiesen malten wir in der Schule rauchende Schornsteine. Nicht die Dorfidylle, sondern die Industrialisierung sollte die neue, progressive Heimat sein. Jetzt ist es bei der SVP wieder die Wiese, allerdings eine künstlich rote mit weissen Schafen und einem schwarzen Schaf, das ausgestossen wird. Ich bevorzuge eine grüne Wiese mit vielen bunten Schäfchen.

Lerch: Es gibt die Idee, dass sich die Menschen in Zeiten der Krise gerne auf alte Werte besinnen. Heimat – und in diesem Zusammenhang auch die bäuerliche Welt – verkörpern viele solcher Werte: die Verbundenheit mit der Natur, die Harmonie einer grossen Familie, die Verbundenheit und Idylle in einem dörflichen Leben.

Sie publizierten beide Werke, denen «geo-biografische» Fäden eingeflochten sind. Wie wichtig ist Ihnen Heimat als Referenzpunkt für das literarische Schreiben?

Brežná: Es ist die Emigration, die ich als eine tiefe existenzielle Erfahrung erlebt habe, als leidvolle und gleichsam befreiende, ich musste sie endlich literarisch und denkend ausloten.

Lerch: Heimat ist für mich, wie die Erinnerung auch, eine Auswahl und in gewissem Sinn auch eine Erfindung. Ich wähle aus, woran ich mich erinnern will. Ich wähle aus, welche Orte für meine Erinnerung wichtig sind. Die beiden Begriffe sind eng miteinander verbunden. Während der Arbeit an der «Pürin» bin ich von einem klischierten Heimatgedanken ausgegangen. Denn auch für mich hatte die bäuerliche Welt diesen Zauber, der heute so oft besungen und beschworen wird. Durch das Leben in dieser Welt ging dieser Zauber aber verloren. Ein neuer kam hinzu, der viel stärker ist und ehrlicher als das alte Klischee.

Die Arbeit an der «Pürin» wurde zu einer Art Heimatsuche, das Schreiben zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der bäuerlichen Welt. Schliesslich ist diese Welt nicht Teil meines Buches geworden, sondern mein Buch – und ich selber – Teil dieser Welt. In diesem Sinn kann man sich eine Heimat vielleicht schreibend erschaffen. Aber man kann eine Heimat gerade so gut durch das Schreiben wieder verlieren. Im Voraus weiss man nie, wie es enden wird.

Obligatorische Frage: Ist Heimat mehr Ort oder Gefühl?

Brežná: Die geografische Heimat ist durch meine Emigration zerbrochen, ich finde sie jedoch unerwartet als wunderschön glitzernde Scherben zerstreut in der ganzen Welt, in allen möglichen Formen, ob als Mensch, Wort, Bild, Baum, Gedanke ...

Lerch: Gibt es Gefühle, die keinen Ort haben? Ich glaube nicht.

Mit welchem Wahrnehmungssinn lässt sich Heimat am besten erfahren?

Brežná: In meinem Essay «Heimatsinne und Fremdcard», den ich vor fünfzehn Jahren geschrieben habe, suche ich Heimat mit allen Sinnen, allerdings auf eine unkonventionelle, kreative Weise. Meine Romanheldin aus dem Buch «Die undankbare Fremde» geht weiter und fordert ein Recht auf Fremdheit, was als ein Recht auf Anderssein verstanden werden kann.

Lerch: Wenn wir davon ausgehen, dass Heimat ein Ort ist, man dorthin kommt und den Geruch irgendeiner Sauce in der Nase hat, oder die Melodie irgendeines Liedes oder das Gefühl einer Sonne, die immer genau so durch diese Blätter jenes uralten Kastanienbaumes auf diese Bank schien, dann brauchen wir wahrscheinlich eben alle Sinnesorgane, die wir haben. In diesem Sinn ist Heimat aber auch etwas, das der Vergangenheit angehört, an das wir uns erinnern, das uns vielleicht abhanden gekommen ist.

Ich möchte aber Heimat wie gesagt lieber als etwas denken, das mich unmittelbar umgibt oder das in der Zukunft vor mir liegt. Wie ich das wahrnehmen kann? Indem ich schreibe. In dem ich mit meinen Mitmenschen rede. Indem ich sehe, dass etwas entsteht, worin wir alle Platz haben.

Was ist das Gegenteil von Heimat?

Brežná: Sie meinen das Fremdsein? Ich würde die Gegensätze relativieren. In der Heimat gibt es doch auch Entfremdung und Fremdgehen. An meinen Lesungen in verschiedenen Ländern stellte ich fest, dass das Fremdsein allen vertraut ist, es verbindet uns wie andere die Heimat.

Lerch: Die Heimat als politisches Konzept. Dieses trübe, verstaubte Bild im Wirtshaus unter dem Hirschgeweih.

Der Duden kennt weder die «Heimats», noch «Heimäter» oder «Heimatte». Gibt es die Heimat nur als Singular?

Brežná: In den Achtzigerjahren interviewte ich in Paris russische Intellektuelle, die von der Sowjetunion ausgebürgert worden waren. Einer sagte, die Heimat sei die Mutter, und es gebe nur eine Mutter, ein anderer konterte, die Heimat sei die Geliebte, und er habe mehrere davon, Frankreich zähle dazu.

Lerch: Vielleicht ist Heimat etwas, das sich nicht zählen lässt. Wie Zukunft. Oder Vergangenheit. Auch da haben wir immer viele. Und wählen – je nach Bedarf – eine bestimmte aus.

Was kann man gegen eine populistische Instrumentalisierung von Heimat tun?

Brežná:Entgegenhalten, dass niemand ein Monopol auf Heimat hat. Wie die meine aussehen soll, lasse ich mir nicht vorschreiben.

Lerch: Vielleicht, indem man den Begriff furchtloser, aber nicht gedankenloser verwendet. Aber natürlich ist Heimat schon überall im Übermass drin, wie der Zucker und das Salz in unseren Nahrungsmitteln. Heimat ist in gewissem Sinn ein Geschmacksverstärker. Oder ein Take-away-Produkt. Vielleicht könnte man ein Plakat machen: Heimat wieder selbst machen! Oder: Heimat handgemacht! Aber das ist vielleicht auch blöd.

Wie weit weg von daheim sind Sie in dem Moment, in dem Sie diese Fragen beantworten?

Brežná: Schreiben ist vertiefen, weiterziehen, im Schreiben bin ich daheim. Aber ich beheimate mich auch im Einsatz mit anderen für eine Sache. Zuletzt kämpfte ich zusammen mit unseren Nachbarn für den Erhalt von zwei geschützten Pappeln im Gotthelfquartier, die die Stadtgärtnerei zum Fällen freigegeben hatte. Wir zogen es dann bis zum Appellationsgericht durch. Eine Pappel wurde daraufhin gefällt, die andere haben wir gerettet. Gleichzeitig haben wir uns selbst gerettet, als Landsleute in Geist und Tat, die sich die Baum-Heimat nicht kampflos entreissen lassen.

Lerch: So weit wie meine Hand von der Kaffeetasse entfernt ist, die jetzt, nachdem ich diese Fragen beantwortet habe, leer auf dem Tisch steht.